Werner Heinlein aus München stellte uns folgende Abhandlung zu Verfügung

 

Rechtskultur der ,,Sieger" oder der Schießbefehl der Bonner Regierung

 

Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24.Oktober 1996 zur Zurückweisung der Verfassungsbeschwerden der ehemaligen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR Keßler, Streletz und Albrecht stellt eine Verletzung international anerkannter Normen des Völkerrechts und des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland dar. Mit ihrer Entscheidung bekräftigen die Karlsruher Richter, daß gegenüber den ehemaligen DDR-Bürgern ein Sonderrecht gelten solle - was im Hinblick auf diese Sonderheit nichts anderes sein kann als Unrecht! Die Konstruktion des BVerfG, daß Artikel 103, Abs. 2,des Grundgesetzes nicht mehr uneingeschränkt gelte, findet weder in einem Gesetz noch sonst in einer Rechtsregel eine Stütze, sie ist also gesetz- und verfassungswidrig! 1

Vor 25 Jahren hatten die Regierenden mit ihren ,,Grundsätzen zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräften im öffentlichen Dienst" - als "Radikalenerlaß" in die Geschichte der BRD eingegangen- schon einmal bestimmt, daß die Grund - und Menschenrechte fortan in der BRD nicht mehr für alle Bürger gelten sollten. Drei Jahre später segnete das BVerfG diesen offenkundigen Verstoß gegen die Menschenrechte mit einem von dem Nazi - Juristen Geiger konzipierten Urteil als mit dem Grundgesetz vereinbar ab. Wie heute meinten auch damals schon die politisch Verantwortlichen, man brauche sich nur allerorten lautstark als Gralshüter der Menschenrechte zu gebärden, um sich zuhause über die international eingegangenen Menschenrechtsverpflichtungen hinwegsetzen zu können. Es bedurfte eines langen zähen Kampfes vieler Menschen, unzähliger Protestveranstaltungen im In- und Ausland und des nicht nachlassenden Engagements von Partei - und Gewerkschaftsorganisationen, Verbänden, Künstlern, Juristen und Geistlichen bis 1995 erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg der Bundesregierung, dem Bundesverfassungsgericht und den Landesregierungen verbindlich bescheinigen mußte, daß sie seit Jahren die Grund- und Menschenrechte verletzt hätten, und daß der dadurch angerichtete materielle Schaden wiedergutgemacht werden müsse. Dennoch gibt es bis heute keine Entschuldigung, keine offizielle Rehabilitation und keine politische Erklärung, in der das, was in rund 11 000 Berufsverbotsverfahren +politisch andersdenkenden Bundesbürgern angetan wurde als Unrecht bezeichnet wird. Mehr noch, mit dem neuerlichen Beschluß des BVerfG wird das fortgesetzt, wofür die BRD bereits zwei Jahre zuvor von einem höchsten europäischen Gericht kritisiert worden ist.

Angesichts des außerordentlichen Gewichtes und der weitreichenden Bedeutung dieser Karlsruher Entscheidung für das Schicksal von Recht und Gesetz in diesem Land darf es weder der Justiz noch ihren selbstgerechten politischen Auftraggebern erspart bleiben, an eigene Geschichte erinnert zu werden, über die sie schon damals gern den Mantel des Schweigens gebreitet hätten. Daß. dies nicht gelang, ist das Verdienst couragierter lokaler Zeitungen, des energischen Protestes der Grenzbevölkerung im Aachener Raum und eines einzelnen Bundestagsabgeordneten. Dem 1995 erschienene Buch von Karl Graf - SCHÜSSE AN EINER ANDEREN DEUTSCHEN GRENZE - ist es zu; danken, daß die damaligen Geschehnisse heute allen an wahrheitsgemäßer deutscher Geschichte Interessierten zugänglich sind.

So erfährt der Leser, in den meisten Fällen wohl zum ersten Mal, von ,,Sperrzonen" im Grenzgebiet der BRD zu Belgien in den 50er und 60er Jahren von der "Schießfreudigkeit" deutscher Zollbeamter, von fast täglichen Pressemeldungen über "Warnschüsse", ,,gezielte Schüsse", ,,unglückliche Schüsse" und "Todesschüsse" auf Menschen, darunter Jugendliche und Kinder deren einziges Vergehen darin bestand, durch Kaffeeschmuggel dem bundesdeutschen Fiskus Steuereinnahmen vorenthalten und dem Ruf "Halt!" der Zollbeamten nicht sofort Folge geleistet zu haben. Er liest von wilden Verfolgungsfahrten durch Stadt und Land, bei denen sogar Unbeteiligte der Gefahr des Erschießens oder schwerer Verletzungen ausgesetzt worden waren, kurz: von einem Krieg in Friedenszeiten mit vielen Verletzten und Toten, wie z.B. der am 22.Februar 1964 von einem deutschen Zollbeamten aus 20 Meter Entfernung getöteten Vaters zweier Kinder, der in Belgien eineinhalb Pfund Kaffee, 100 Gramm Tee und 20 Eier eingekauft und die Aufforderung des Beamten zum Halten nicht befolgt hatte.

Anhand von Zeitungsberichten Über dramatische Ereignisse im Grenzgebiet, den leichtfertigen und mißbräuchlichen Schußwaffeneinsatz deutscher Zollbeamter, von Auszügen aus Finanzpolitischen Mitteilungen des Bundesministers der Finanzen und aus Sitzungsprotokollen des Bundestages während dieser Jahre ist zu erfahren, welchen geringen Stellenwert Bundesregierung, Bundestag und Justiz dem Grund- und Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit beigemessen haben, als es darum ging, die Wiederaufrüstung der BRD auch mit Hilfe der Einnahmen aus der Kaffeesteuer zu finanzieren.

Dies alles hatte den Bundestagsabgeordneten Günter (CDU) veranlaßt, in der 231. Sitzung des Bundestages am 1.Oktober 1952 u.a. zu erklären: "Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in der Presse, vor allem in der Aachener Presse, irgend etwas über den Schmuggel gemeldet wird, und jeden Tag werden irgendwelche Zeitungsnotizen mit dicken Überschriften von der Bevölkerung gelesen: "17jähriger Schmuggler angeschossen" "Schmuggel von Fenster zu Fenster", "An der Grenze herrscht wirklicher Krieg", "Schüsse ohne Rücksicht auf Passanten", "Schmuggel forderte Menschenleben", "Manöverstimmung in der Eifel", "Schmuggel forderte Menschenleben", "21jähriger Arbeitsloser Schmuggler brach 10 Meter von der Grenze entfernt zusammen " usw.

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt von Zeitungsnotizen einer einzigen Zeitung, und zwar einer bürgerlichen Zeitung, die nicht irgendwie in Sensationen machte sondern so ist im Augenblick die Situation an der Aachener Grenze. Der Staat hat unter keinen Umständen das Recht, auf einen Menschen nur deshalb - schießen zu lassen, und ihn eventuell sogar zu. töten, weil er dem Staat einige Zölle oder Abgaben hinterzieht. Hier stehen das Rechtsgut der staatlichen fiskalischen Interessen, die sicher beachtenswert sein müssen, und das Rechtsgut des menschlichen Lebens einander gegenüber. Bei der Wahl zwischen diesen beiden Rechtsgütern dürfen wir nicht deshalb rücksichtslos über Menschenleben verfügen, weil wir hoffen, ein paar Mark mehr in die Finanzkasse zu kriegen." Leider fand sich damals niemand, der dem. Abgeordneten Günter offen seine Sympathie dafür bekundet hätte, daß er Menschenleben höher einschätzte als Steuereinnahmen. Im Gegenteil, wieder und wieder wurde von anderen Abgeordneten und Regierungsvertretern ins Feld geführt, daß man die ,,Opfer" angesichts der sonst drohenden Mindereinnahmen an Steuern hinnehmen müsse. Sogar das in Eupen erscheinende "Grenzecho" wies damals voller Besorgnis darauf hin, daß sich selbst. namhafte Journalisten und Zeitungen des von Deutschland weit entfernten Auslands mit dieser ,,Frage der Menschlichkeit" ernstlich beschäftigen. Und der seinerzeit gerade erst von der Koreafront zurückgekehrte italienische Weltreporter Dr. Belotti, Deutschlandkorrespondent der Mailänder Zeitung ,,La Patria" in Aachen, faßte seine in und um Aachen gewonnenen Eindrücke von der bundesdeutschen ,,Kaffeefront" so zusammen: "Ich habe in aller Welt die Lage der Grenzgebiete zur Genüge kennengelernt. Aber selbst da, wo es am heißesten zugeht, fließt bei der Schmuggelbekämpfung nicht so viel Blut wie ausgerechnet im Aachener Raum" 4.

Das hinderte den zuständigen Beauftragten des Bundesministers des Innern jedoch nicht daran, auf die schriftliche Anfrage der Bundestagsabgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann (PDS), wie oft es seit Bestehen der BRD im Bereich ihrer Staatsgrenzen durch Angehörige des BGS, der Bayrischen Grenzpolizei, durch Polizeibeamte der Länder, durch Besatzungstruppen bzw. verbündete Truppen zum Schußwaffengebrauch kam, wie viele Verletzte und Tote es infolge dieses Schußwaffeneinsatzes gab, und in wie vielen Fälle es gegen die Schützen strafrechtliche Verfahren und mit welchem Ergebnis eingeleitet wurden, folgendes mitzuteilen: ,,Der Schußwaffengebrauch richtet sich streng nach dem Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewallt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) unter besonderer Berücksichtigung des darin enthaltenen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Eine zahlenmäßige Erfassung der gewünschten Angaben erfolgte nur im Bereich des BGS sowie bei der Bayrischen Grenzpolizei für die Jahre 1981 - 1991 an der deutsch - österreichischen Grenze. Insgesamt sind 11 strafrechtliche / dienstrechtliche Verfahren eingeleitet worden. Von denen sind fünf noch nicht abgeschlossen, und vier Verfahren wurden eingestellt. Zu zwei Verfahren aus 1977 wurden die Unterlagen unter Beachtung der Aufbewahrungefristen bereits vernichtet.11 Es ist kaum. zu glauben, der gleiche Staat, der vor 1989. in Salzgitter eine spezielle Erfassungsstelle unterhielt, die jeden Schußwaffengebrauch von Angehörigen der Grenzsicherungsorgane der DDR peinlich genau registrierte, und der seit dem Anschluß der DDR an die BRD viele Ermittlungsbeamte allein dafür beschäftigte daß sie diejenigen Soldaten, die dabei jemand verletzt oder getötet haben, sowie ihre Vorgesetzten auf die Anklagebank bringen, muß auf Anfrage eingestehen, selbst keinen Überblick über die an seinen Grenzen durch den Schußwaffengebrauch seiner Beamten Verletzten und Getöteten und Unterlagen von 1977 bereits vernichtet zu haben. Kann es dafür andere, als politische Gründe geben? Über die Glaubwürdigkeit der Mitteilung des Bundesinnenministeriums, wonach es eine Erfassung der von Frau Dr. Enkelmann gewünschten Angaben ausgerechnet nur für die deutsch–österreichische Grenze, nicht aber für die an Vorkommnissen so reichen Grenzen zur DDR und um Westberlin erfolgt sei, sollte sich jeder sein eigenes Urteil bilden. So ist es sicher auch kein Zufall, daß der am 14.August 1962 vom Grenzjäger Koch erschossene Hauptmann der Grenztruppen der DDR, Rudi Arnstadt in dieser Information des Bundesministeriums des Innern nicht erscheint. Während vor 40 Jahren Zollverwaltung, Bundesfinanzministerium und Justiz der BRD die Tötung von Menschen wegen Schmuggel fast immer nur auf "unglückliche Schüsse" zurückführten und für die Schützen Rechtfertigungsgründe en masse fanden, unterstellen das Landgericht Berlin und andere Landgerichte, der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht ehemaligen Grenzsoldaten der DDR, die in Übereinstimmung mit den Gesetzen ihres Staates auf Grenzverletzer geschossen haben, den Tatbestand der "vorsätzlichen Tötung" und schließen Rechtfertigungsgründe aus. Nicht anders verhält es sich mit der Auslegung von Befehlen und Dienstvorschriften. Während in den 50er und 60er Jahren nicht etwa die Aufgabenstellung des Bundesministers der Finanzen, nicht die Anweisungen der Zollverwaltung, nicht die Befehle der Vorgesetzten vor Ort und auch nicht die in den Pressemeldungen immer wieder beklagte ,,Schießfreudigkeit" der Zollbeamten die Toten und Verletzten an der Front des Kaffeekrieges zur Folge hatten, sondern "unglückliche Dienstvorschriften" oder in "Erregungssituationen überforderte Zollbeamte", erklärt das BVG heute in Bezug auf die ehemaligen Angehörigen der Grenztruppen der DDR: "Die Strafgerichte sind verfassungsrechtlich bedenkenfrei davon ausgegangen, daß der Entschuldigungsgrund des "Handelns auf Befehl" ausgeschlossen sei, weil die Rechtswidrigkeit des Befehls zum Schußwaffengebrauch an der Grenze nach den bekannten Umständen offensichtlich war." Es ist nicht zu übersehen, daß sich die bundesdeutsche Justiz immer dann auf ,,die Menschenrechte" beruft, wenn es ihr darum geht ehemalige Angehörigen der Grenztruppen der DDR rechtswidriges Handeln zu unterstellen. Berufen sich aber angeklagte ehemalige Angehörige der Grenztruppen auf die Europäische Menschenrechtskonvention von 1952, die in ihrem Artikel 2 die Tötung eines Menschen n i c h t für (menschen -) rechtswidrig ansieht, ,,wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt,..,, um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen", dann weigert sich die gleiche Justiz, ihnen diesen Rechtfertigungsgrund zuzugestehen. Obwohl es sich bei der Europäischen Menschenrechtskonvention um die von den Regierungen aller Mitgliedstaaten des Europarates mit Gesetzeskraft ausgestattete Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten handelt.

Bemerkenswert auch das völlig ergebnislose öffentliche Tauziehen über besagte "unglückliche Dienstvorschriften" und die verständnisvolle und nachsichtige Behandlungen von "Todesschützen" durch die Justiz, Pardon von "Todeschützen " spricht man ja erst nach dem Anschluß der DDR an die BRD, und zwar immer nur dann, wenn es sich bei den Schützen um einen ehemaligen Angehörigen der Grenztruppen handelt. Bundesdeutsche Zollbeamte, die damals an der Westgrenze der BRD Menschen erschossen haben, wurden Unglücksschützen" genannt.

Nachfolgend ein Beispiel für den Schußwaffengebrauch durch einen solchen ,,Unglücksschützen" und seine strafrechtliche Behandlung durch Untersuchungsorgane und Staatsanwaltschaft, wie es in der Christlich - Demokratischen ,,Aachener Volkszeitung" am 10. und 14.Juli sowie am 19.August 1952 nachzulesen. war: Am Nachmittag des 9.Juli 1952 wurde. in der Raerener Straße in Aachen - Sief der 18 Jahre alte Schmuggler Hans Schiffers aus Eschweiler durch einen Pistolenschuß des Zollassistenten Moitzheim getötet. Schiffers hatte sechs Pfund Kaffee bei sich. Der Schmuggler war in der Nähe der Schule von einem Zollbeamten gestellt worden, der ihn nach Angabe der Zollpressestelle durch zweimaligen Anruf und durch fünf Warnschüsse zum Stehenbleiben aufgefordert hatte. Durch den späteren Fund von fünf Patronenhülsen auf den Wiesen der Landwirte Kerres und Pitz (die Entfernung von der belgischen Grenze bis zur Fundstelle wird von Karl Graff auf 500 Meter geschätzt) sind die Angaben der Zollbeamten über den Hergang der Tragödie so stark in Zweifel gezogen worden, daß die Polizei ihren bereits herausgegebenen abschließenden Bericht zurückgezogen hat. Es besteht der Verdacht, daß Moitzheim den tödlichen Schuß nicht, wie er angegeben hat, aus 50 - 60 Meter, sondern nur aus etwa 12 Meter Entfernung abgefeuert hat. Oberrat Busch sprach von einem "ausgesprochenen Genickschuß". 0berstaatsanwalt Dr. Reuter meinte: "Wenn die Aussagen Moitzheims falsch sind, können wir daraus noch nicht den Schluß ziehen, daß er Schiffers fahrlässig oder vorsätzlich erschossen hat."

Am 19.August. 1952 hieß es in der gleichen Zeitung lakonisch, die Ermittlungen in der Tragödie von Aachen - Sief seien nach Meldung der Polizei abgeschlossen. 7

Als es in der Bundestagsdebatte am 4.März 1964 wieder einmal um von Zollbeamten getötete Schmuggler ging, erklärte der damalige Bundesminister der Finanzen, Dr. Dahlgrün dazu u.a. ,,Wir haben schwierige Grenzen.. Wir müssen das Anhalterecht an der Grenze aufrechterhalten. Das brauchen wir so oder so. Die Kernfrage ist: Inwieweit kann ich die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit bei Einsatz der Schußwaffe einem Beamten in einer solchen Situation aufbürden, wo es schnell geht, wo er in einer gewissen Erregung ist. Geht das Gesetz oder gehen die Verwaltungsvorschriften da nicht über das Beurteilungsvermögen des Beamten hinaus?" 8

Obwohl Dr. Dahlgrün. schon vor mehr als 30 Jahren den Zusammenhang zwischen der Erregung eines Beamten beim Schußwaffeneinsatz, ,,wo es schnell geht", und seinem Vermögen, die Verhältnismäßigkeit seines Handelns zu beurteilen mit vollem Recht als ,,die Kernfrage" bezeichnete, wird diesem Zusammenhang heute bei der Beurteilung des Schußwaffeneinsatzes durch ehemalige Angehörige der Grenztruppen der DDR nicht diese Bedeutung beigemessen.

Auch die Argumentation des Bundestagsabgeordneten Mende (FDP) zum Schußwaffeneinsatz durch Zollbeamte in der Bundest;agssitzung im Dezember1952 verdient der Erwähnung: "Ich möchte jedoch nicht, daß man die Schuld auf jene Tausende von Zollbeamten abwälzt, die für uns alle in mühseliger Tag und Nachtarbeit auf sehr gefährlichem Posten stehen. Ich meine, wenn man sich der Gefahr entziehen will, dann soll man nicht schmuggeln. Auch vor der Bundestagswahl lehne ich es ab..., etwa hier so zu tun, als ob der Schmuggler der Märtyrer und der Zollbeamte der Verbrecher wäre. Ich wiederhole, bekräftigte Ritterkreuzträger Mende, ,,wer Zwischenfällen entgehen will, soll den Schmuggel gefälligst meiden." 9.

Nicht auszudenken der Tumult im Bundestag, würde heute ein Abgeordneter mit einer solchen Argumentation das gesetzmäßige Handeln ehemaliger Angehöriger der Grenztruppen der DDR rechtfertigen wollen.

Nahezu deckungsgleich mit den militärischen und rechtlichen Argumenten angeklagter ehemaliger Angehöriger der Grenztruppen der DDR und ihrer Anwälte war seinerzeit der Standpunkt des Bundes der Deutschen Zollbeamten in "Der Deutsche Zollbeamte - Organ des Bundes der deutschen Zollbeamten e.V." unter der Schlagzeile: "DÄS GROSSE GESCHREI" : "Ein Schmuggler ist erschossen worden. Wir bedauern den Tod eines Mitmenschen und die leidvollen Folgen für die Familie. Für uns ist das Mißverhältnis zwischen schuldhaftem Verhalten und dessen Folgen tragisch. Unser Mitgefühl gehört den Angehörigen. Aber was soll das große Geschrei, besonders der Presse?...Was soll das Lamentieren um die Unverletzlichkeit der Person? "Was sollen Gesetze, wenn ihre Befolgung nicht notfalls erzwungen werden soll? Dieser Schmuggler ist nicht wegen des geringfügigen Schmuggelgutes erschossen worden. Der Zollbeamte ist kein Hellseher. Vielmehr mußte er annehmen, daß ein Mann, der durch Zuruf und Warnschuß zum Halten aufgefordert worden ist und trotzdem weiterfährt, sich einer besonders schweren Gesetzesverletzung schuldig gemacht hatte. Wie konnte der Beamte annehmen, daß dieser Mann wegen ein paar Groschen Abgaben sein Leben aufs Spiel setzte? Welche Verdrehung der Tatsachen, den Beamten nunmehr zum Schuldigen zu stempeln. Warum ist dieser Schmuggler nicht stehengeblieben? Konnte dieser Mann nicht vielmehr staatsgefährdendes Material bei sich führen, Rauschgifte, konnte er nicht ein lang gesuchter Verbrecher sein? Wir glauben nicht., daß sich ein Richter findet, der diesen Mann verurteilt. Die Folgen wären nicht abzusehen. Sollen die Waffen der Zollbeamten in Zukunft nur noch zur Selbstverteidigung gebraucht werden? Soll in Zukunft jedermann die Grenze ungehindert passieren können...? Kann der Gesetzesbrecher tun und lassen, was er will? Wir haben niemals solch einen Aufwand erlebt, wenn etwa ein Beamter in Ausübung seines Dienstes von Verbrechern getötet worden ist... . Aber jetzt das Geschrei: "Ein Familienvater für einige Grämmchen Kaffee erschossen", "Todesschütze" - ,"ein Familienvater mußt wegen einer Bagatelle sterben" - ,"ein Menschenleben auslöschen, einen Familienvater töten" - ,Wild - West an der Grenze" – "Todesschuß aus Zollpistole" – "...einen wehrlosen Menschen wie ein Stück Vieh abschießen" – "...eine Tat, die zum Himmel schreit" – "...kaltblütige Erschießung". Wir glauben zu wissen, daß unsere Verwaltung sich schützend vor ihren Beamten stellt. Es muß ganz klar und eindeutig festgestellt werden, daß Gesetze dazu da sind, um befolgt, und Dienstvorschriften um angewendet zu werden. Die Verantwortung darf nicht den Beamten treffen. Der Kolleg soll wissen, daß der Bund der Deutschen Zollbeamten hinter ihm steht, und wir uns solidarisch erklären." 10

Und dasselbe Presseorgan berichtete in einer späteren Ausgabe mit Genugtuung von dem ,,guten Ausgang" des richterlichen Nachspiels dieses Todesschusses an der Grenze.

Aufschlußreich auch die folgende Anmerkung des Bundes der Deutschen Zollbeamten "Kollege Klaus hatte im Februar 1964 im Raume Aachen im Rahmen des geltenden Rechts gegenüber einem Mopedfahrer von der Schußwaffe Gebrauch gemacht und ihn dabei leider tödlich verletzt. Der Bundesvorstand hatte dem Kollegen Klaus Rechtsschutz zuerkannt. K. brauchte jedoch diesen Rechtsschutz nicht in Anspruch nehmen, weil das Bundesfinanzministerium einen erfahrenen Rechtsanwalt mit der Verteidigung beauftragt hatte. Kollege Klaus wurde vom Schwurgericht auf Kosten der Staatskasse freigesprochen." 11 Im Gegensatz zu den bundesdeutschen Zollbeamten vor 40 Jahren treffen die als ,,Todesschützen" oder "Mauerschützen" diffamierten und vorverurteilten ehemaligen Angehörigen der Grenztruppen und ihre Vorgesetzten nicht auf eine Justiz, die ihren Rechtfertigungsgründen aufgeschlossen und unvoreingenommen gegenübersteht. Und die Gesetze und Dienstvorschriften der DDR, die ihr dienstliches Handeln deckten, dienen der Justiz heute nicht als Grundlage für die Beurteilung ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit, sondern werden von ihr als menschenrechtswidrig diskreditiert.

Sie haben keine vorgesetzte Führungsebene ähnlich der Zollverwaltung, keine Interessenvertretung ähnlich dem Bund der Deutschen Zollbeamten e.V., kein Presseorgan ähnlich dem Zollbeamtenmagazin und auch kein Ministerium an ihrer Seite, das erfahrene Rechtsanwälte mit ihrer Verteidigung beauftragt. Und auch die Kosten für ihre Prozesse werden nicht von der Staatskasse übernommen, sondern müssen von ihnen und ihren Familien, oft auf viele Jahre verteilt, mühsam aufgebracht werden.

Vor einem solchen Hintergrund erkennt jeder, wie gering ihre Chancen gegenüber einer Justiz sind, die sie ungleich behandelt, für sie elementare Rechtsgrundsätze und Verfassungsrechte außer Kraft setzt und damit ein Sonderrecht gegen sie anwendet, den Einigungsvertrag verletzt, indem sie nicht DDR-Recht, sondern BRD-Recht und sogenanntes Naturrecht für die Beurteilung ihres dienstlichen Handelns zugrunde legt, kurz: die den politischen Auftrag hat die DDR zu delegitimieren.

Die Karlsruher Verfassungsrichter mußten zwar eingestehen, daß die gesetzlichen Bestimmungen der DDR über den Schußwaffengebrauch den ,,Vorschriften der Bundesrepublik über die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Wortlaut entsprechen, aber dieses Hindernis für eine Strafverfolgung umgingen sie dadurch, daß sie erklärten, in der DDR wäre ,,die Gesetzeslage von Befehlen überlagert gewesen. Den Angehörigen der Grenztruppen sei vor Ort von den ,,Befehlsgebern" vermittelt worden, Grenzverletzer seien ,zu vernichten, wenn der Grenzübertritt mit anderen Mitteln nicht verhindert werden könne". So einfach ist das: Ein Gericht der BRD erklärt, daß die besondere Vertrauensgrundlage entfällt, wenn der andere Staat;" - gemeint ist die DDR- ,,über geschriebene Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert". Damit braucht man für sein Urteil keine Belege, sondern nur die Offensichtlichkeit der Schuld - und diese Offensichtlichkeit bestimmen die ,,Sieger".

Wahrheitsgemäße Zeugnisse von ehemaligen Grenzsoldaten der DDR, wie beispielsweise von Horst Jäckel, können da nur stören: "Fest eingeprägt hat sich mir die Erinnerung daran", berichtet er, ,,daß meine Vorgesetzten vor dem Grenzdienst geradezu beschwörend die eingesetzten Grenzer ermahnten, alles zu tun, um möglichst niemals die Waffe zur Tötung eines Grenzverletzers anzuwenden. Immer galt das Primat der vorbeugende Sicherung der Grenze, der Verhinderung von Grenzverletzungen ohne Anwendung der Schußwaffe. Wir Grenzer wurden belehrt und geschult, uns nicht provozieren zu lassen (was von gegnerischer Seite permanent erfolgte), nicht den Kopf zu verlieren und nicht leichtfertig mit Waffen umzugehen." 12 Dabei handelt es sich um Aussagen, die bei der Vernehmung anderer ehemaliger Grenzer in den bisher durchgeführten Strafverfahren sinngemäß bestätigt wurden, ohne daß sie bei der Staatsanwaltschaft oder den Gerichten gebührende Beachtung fanden.

In Hinblick auf die Unterstellung des Landgerichts Berlin und des Bundesgerichtshofs - das BVerG nimmt in seinem Beschluß ausdrücklich auf die Feststellungen beider Gerichte Bezug -, in der DDR sei die Gesetzeslage von Befehlen überlagert gewesen, und "für eine nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebotene Eingrenzung des Schußwaffengebrauchs " sei kein Raum geblieben, muß die Frage gestattet sein, wie die Justiz wohl den Begleiterlaß vom September 1951 zur Neufassung der Dienstanweisung zum Gesetz über den Waffengebrauch durch Grenzaufsichtsbeamte vom 2.Juli 1921 bewertet? Zu den in der Neufassung dieser Dienstanweisung enthaltenen zahlreichen Einchränkungen und Vorsichtsregeln - auch des Waffenengebrauchs - heißt es in besagtem Begleiterlaß, daß mit den angeführten Hinweisen keine Einschränkung des Waffengebrauchsrechts an sich geboten sei. Wenn der Waffengebrauchsberechtigte einmal erkannt hat, daß er nur mit Waffengewalt das rechtmäßig erstrebte Ziel erreichen kann, so hat er von der Waffe Gebrauch zu machen. Und was war das ,,rechtmäßig erstrebte Ziel"? Den Mann, die Frau, das Kind wegen Kaffeetüten anzuhalten und zu bestrafen - und wenn das nicht anders zu. erreichen war, dann hat der Waffengebrauchsberechtigte von der Waffe Gebrauch zu machen. Sicher würde auch bei diesem Sachverhalt die politische Begründung der Neufassung der Dienstanweisung, wie sie im Begleiterlaß in aller Rechtsstaatsherrlichkeit nachzulesen ist, für die Justiz Grundlage ihrer rechtlichen Beurteilung des Schußwaffengebrauch sein: "Der Zollbeamte an der Grenze dient unter Einsatz von Leib und Leben dem Schutz des Steuerzahlers, der durch den Steuerausfall geschädigt wird wie auch dem Schutz der deutschen Wirtschaft, der deutschen Währung und der Staatssicherheit"! 13

Anstatt den "Waffengebrauchsberechtigten" der Grenztruppen des andern deutschen Staates ebenfalls zuzugestehen, mit seinem Dienst Schutzfunktionen im Interesse seines Staates, dessen Bürger, dessen Wirtschaft dessen. Währung und auch dessen Staatsicherheit erfüllt zu haben, kommt das BVerG zu einer völlig anderen Bewertung: "Diese Unterordnung des Lebensrechts des Einzelnen unter staatliche Interessen war materiell schwerstes Unrecht."

Es muß selbst dem Gutgläubigsten zu denken geben., daß die gleiche Justiz die heute der DDR eine ,,Unterordnung des Lebensrechts des Einzelnen unter staatliche Interessen" vorwirft, und als ,,materiell schwerstes Unrecht anzulasten bemüht ist, keinerlei Handlungsbedarf sah, als in den 50er und 60er Jahren viele Menschen von deutschen Zollbeamten nur deshalb verletzt oder getötet wurden, weil die Bundesrepublik das Lebensrecht des Einzelnen ihren staatlichen Interessen, konkret den Kaffeesteuereinnahmen, untergeordnet hat, was nach der Karlsruher Rechtsauffassung dann ebenfalls ,,materiell schwerstes Unrecht" darstellen würde. An dieser Stelle drängt es sich auf, aus der mündlichen Urteilsbegründung des Vorsitzenden der 36.Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin im Prozeß gegen die Generale der ehemaligen Führung der Grenztruppen der DDR - auch darauf nimmt das BVerfG in seinem Beschluß Bezug - zu zitieren: "Der Grenzsoldat -,,Mauerschütze"- durfte nach den Grundsätzen des Menschenrechts nicht auf unbewaffnete Flüchtlinge schießen, er durfte es nur nach dem Recht der DDR. Handelte er - und dies ist nahezu allen hier verhandelten Fällen gemeinsam - mit der Zielrichtung, das Opfer fluchtunfähig zu schießen, aber mit dem Wissen um die unvermeidliche Ungenauigkeit des Schusses, so handelte er bedingt vorsätzlich; er nahm die tödlichen Folgen eher in Kauf als eine erfolgreiche Flucht. Seine Kammer teile die rechtliche Betrachtungsweise des BGH, wonach die Erschießung von fluchtwilligen DDR-Bürgern als Totschlag zu ahnden seien, und daß Mitglieder der oberen Verantwortungsränge innerhalb der DDR - Herrschaftsstrukturen grundsätzlich hinter den eigentlichen Schützen täterschaftlich mithaften. 14 Die Tatsache, daß die gleiche Justiz 40 Jahre zuvor die von bundesdeutschen Zollbeamten mit der gleichen Zielrichtung und dem gleichen ,,Wissen um die unvermeidliche Ungenauigkeit des Schusses auf unbewaffnete Schmuggler abgegebenen Schüsse n i c h t als Totschlag mit bedingtem Vorsatz gewertet und geahndet und ebensowenig ,,Mitglieder der oberen Verantwortungsränge innerhalb der "BRD Herrschaftsstrukturen" grundsätzlich hinter dem eigentlichen Schützen täterschaftlich mithaftbar gemacht hat, zeigt, daß die zitierte rechtliche Betrachtungsweise im Widerspruch zum Grundrecht ,,Gleichheit vor dem Gesetz" steht und einen weiteren Versuch darstellt, der politischen Abrechnung mit der DDR den Anschein von Rechtsstaatlichkeit zu geben.

Auch in Bezug auf die Vollmachten zum Waffengebrauch durch Zollbeamte der BRD und Angehörige der Grenztruppen der DDR ist diese Doppelmoral offenkundig. Bundestag, Bundesfinanzministerium und Zollverwaltung haben 40 Jahre lang bis heute gegen alle Kritik durchgesetzt, daß die besondere Vollmacht der Beamten für den ,,Schußwaffengebrauch im Grenzdienst", die weit über die der Polizei hinausgeht, beibehalten werden. Demgegenüber versucht man mit dem Geschwätz von ,,innerdeutscher Grenze", d.h. einer Art Landesgrenze wie z.B. zwischen Hessen und Bayern, den Eindruck zu suggerieren, die DDR - Grenzposten hätten lediglich polizeiliche, nicht aber militärische Aufgaben erfüllen dürfen. Ergo gehören alle Handlungen der DDR - Grenztruppen im Bestand der Landesverteidigung der DDR und zur militärischen Sicherung und Verteidigung der westlichen Nahtstelle des Warschauer Paktes zur NATO in die Kategorie ,,DDR – Unrecht ".

Was die Glaubwürdigkeit von Erklärungen der in beiden deutschen Staaten für die Grenzsicherung Verantwortlichen angeht, mißt die Justiz ebenfalls mit zweierlei Maß. Während sie die Versicherungen des ehemaligen Verteidigungsministers der DDR, des früheren Chefs des Hauptstabes der NVA und der Generale der ehemaligen Führung der Grenztruppen, die den Vorgesetzten vor Ort unterstellten ominösen mündlichen Befehle habe es nie gegeben, als Schutzbehauptung zurückwies und Oberstaatsanwalt Jahntz sich im sogenannten Politbüro-Prozeß sogar soweit verstieg, vom ,,Abschießen von Flüchtlingen als Gegenstand des sozialistischen Wettbewerbs" zu reden, sah die Justiz keinen Handlungsbedarf als der Bundestagsabgeordnete Jacobs (SPD) in der 246. Sitzung des Bundestages im Jahr 1953 erklärte: "Mir ist mitgeteilt worden, daß der Leiter des Hauptzollamtes in Trier noch kürzlich informatorisch erklärt haben soll, daß er jeden, der nicht nach einem zweiten Warnschuß einen gezielten Schuß abgebe, disziplinarisch zur Verantwortung ziehen wolle." 15. Mit der Erwiderung des Leiters der Zollverwaltung Dr. Schillinger, Ministerialdirektor im Bundesministerium der Finanzen, das entspreche nicht den Tatsachen, war dieses ,,heiße Eisen" noch vor Ende der Debatte wieder vom Tisch. Die Ungleichbehandlung beider deutscher Staaten durch die ,,Sieger" ist allgegenwärtig, so daß auch beim Thema Grenzsicherung noch viele Beweise dafür gebracht werden könnten. Aus Platzgründen soll es als letztes beim nachfolgenden Beispiel belassen werden: Während die Justiz der DDR das Recht absprechen möchte, unter den Bedingungen des Kalten Krieges ihre westliche Staatsgrenze im Auftrag und stellvertretend für alle Warschauer Paktstaaten nach militärischen Grundsätzen, mit regulären Grenztruppen und mit militärischen Mitteln zu sichern und zu verteidigen, betrachtet es die BRD heute als Selbstverständlichkeit, daß sie mit ihrem keinesfalls unter dem Gesichtspunkt der Humanität installierten Bewachungssystem an der Ostgrenze das Schengener Abkommen wahrt und damit diese Grenze stellvertretend für alle EU-Staaten sichert.

Daß es an der Ostgrenze der BRD nicht weniger Tote als an der Mauer gibt, können selbst noch so zurückhaltend formulierte Pressemeldungen nicht aus der Welt schaffen. Warum wird über die mehr als 2000 Toten, die es 1994 an europäischen Grenzen gab, nicht genauso öffentlich berichtet, wie über die Toten an der Grenze der DDR in den Jahren des Kalten Krieges? Warum werden die einen öffentlich beklagt und die andere nicht? Warum wurde der Schußwaffeneinsatz mit tödlichen Folgen durch bundesdeutsche Zollbeamte vor 40 Jahren anders bewertet als der Schußwaffeneinsatz mit Todesfolge durch Angehörige der Grenztruppen der DDR heute. Weil es bei der politischen Strafverfolgung ehemaliger Hoheitsträger der DDR in ihrem Kern gar nicht um Schüsse und Tote an der Grenze, sondern um die sozialistische DDR geht, um das gesellschaftliche Engagement dieser Menschen für ihren Staat, einen Staat, den es nach Auffassung der politischen Klasse der BRD nicht hätte geben dürfen. Mit der Kriminalisierung von Personen soll der Sozialismus schlechthin kriminalisiert werden. Es hat, so lautet die Botschaft, nicht noch einmal den Versuch einer Alternative zum bestehenden imperialistischen. System zu geben. Die politische Aufforderung des ehemaligen Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, die dieser kurz nach dem Anschluß der DDR - da schon in seiner Eigenschaft als Bundesjustizminister - an die Juristen gerichtet hatte, die DDR zu "delegitimieren", hat genau das zum Inhalt. Und diese Aufforderung wird, wie der Beschluß des BVerfG erneut bestätigt, ohne Rücksicht auf die Folgen erfüllt. Bereits die ersten "Mauerschützenprozesse" veranlaßten Norman Paech, Professor für öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik Hamburg, folgendes festzustellen: "Der Richter in der Bundesrepublik soll unabhängig in seiner Entscheidung und unparteiisch sein. In solchen Prozessen ist kaum ein Richter unparteiisch. Denn man muß diese Prozesse im Zusammenhang sehen mit dem, was derzeit an Aufarbeitung, Abwicklung, Kolonialisierung im Osten Deutschlands durch den Westen passiert. Die Richter haben dabei ihren Part zu spielen. Wie gesagt, ich halte sie (diese Prozesse) für einen Teil dieser Umerziehungs - und Kolonialisierungsarbeit, und ich stehe vor dem Fakt, daß sie gemacht werden. Diese Gesellschaft sieht die Möglichkeit, über ihre ehemaligen "Feindnachbarn" zu richten, und sie nutzt die Gerichte, die Objektivität auszustrahlen scheinen" 16. Und Rechtsanwalt Dr. Heinrich Hannover aus Bremen schrieb dazu u.a.: "Ich gehöre zu denen, die etwas gegen Schießbefehle haben. Und ich würde sofort zustimmen, wenn die Menschheit sich einig wäre, alle Politiker und Militärs einzusperren, die für militärische Einsätze gegen Menschen verantwortlich sind. Aber dann nicht nur entmachtete Staatsmänner und Grenzsoldaten des ehemaligen sozialistischen Weltteils. Sonst wird gar zu offensichtlich, daß die Berliner Angeklagten nicht deshalb verurteilt werden, weil sie getötet haben, sondern weil sie dies im Auftrag eines sozialistischen Staates getan haben." 17

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, als Herr Schaefgen, Leiter der zur Strafverfolgung früherer DDR – Bürger geschaffenen Generalstaatsanwaltschaft, in einer Veranstaltung am 4.Dezember 1996 in Berlin seine Freude über den Beschluß des BVerfG zum Ausdruck brachte von "DDR – Unrecht" und "sogenanntem (!) Nazi - Unrecht" sprach und weitere gerichtliche Verfahren gegen Führungskräfte der ehemaligen Grenztruppen der DDR ankündigte. Daß er dabei neben pathologischen Antikommunisten und anderen DDR - Hassern auch von Leuten der berüchtigten "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU)" - Pastor Niemöller' hatte die KgU als eine Verbrecherorganisation bezeichnet - skandiert wurde, einer von ihnen den Bundestagsabgeordneten Professor Uwe - Jens Heuer ungestraft anbrüllen konnte "Sie gehören an den Galgen" und ein Zuhörer, dessen Familie im KZ Bergen - Belsen ermordet wurde, angesichts solcher Haßausbrüche einen tödlichen Herzinfarkt erlitt, vervollständigt nur das Bild von dieser Art Geschichtsaufarbeitung nach Bonner Vorgaben.

Es mutet wie ein Horrorszenario an ,wenn Herr Schaefgen auf die Frage aus dem Publikum, weshalb nicht auch Mörder von Grenzsoldaten der DDR verfolgt werden, antwortete, daß der Schutz der Menschenrechte in Bezug auf freie Ausreise dem Bestandsschutz des Staates vorangehe und z.B. schießende Polizeibeamte von der BRD aus auf Grenzer der DDR im Notstand handelten, eine Flucht schützten und damit einen Rechtfertigungsgrund gehabt hätten, wofür sie nicht belangt werden könnten. 18

Damit ist bereits der Doppelmörder Weinhold in 1. Instanz freigesprochen worden. Von der BRD aus eine Gasse für Grenzverletzer freizuschießen, ist also nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten, die Abwehr von Straftaten durch den Grenzer der DDR mittels gesetzlichem Schußwaffengebrauch dagegen schwerstes Unrecht, wofür es keinen Rechtfertigungsgrund gebe. Wenn solches Geschwätz über Gesetzlichkeit, Völkerrecht, Gleichheit vor dem Gesetz oder Rückwirkungsverbot aus dem Munde eines verantwortlichen Justizbeamten kommt kann das schon im Zusammenwirken mit blinden Haßtiraden auf solchen Veranstaltungen einen Menschen töten.

Daß. sich mit dem Beschluß des BVerfG vom 26.Oktober 1996 deutsche Richter bereitfanden den fundamentalen und universell geltenden Rechtsgrundsatz nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz), der für die Zivilisierung des Rechts schlechthin steht, außer Kraft zu setzen, ist ebenso unfaßbar wie der Versuch der bundesdeutschen Strafjustiz, sich widerrechtlich fremde Befugnisse für eigene Zwecke anzumaßen. Denn für die Verurteilung eines andren Staates ist kein Gericht der Bundesrepublik zuständig. Das käme nur einem internationalen Gericht zu.

Den rechtsbewußten Bürgern bleibt die berechtigte Hoffnung, daß ein europäischer Gerichtshof diese neuerliche Entscheidung des BVerfG bald ebenso für grundgesetz- und menschenrechtswidrig erklärt wie die damalige höchstrichterliche Billigung des offensichtlich rechtswidrigen "Radikalenerlasses" durch die Karlsruher Richter.

Die Tragik ist, daß auf der Grundlage der Entscheidung des BVerfG bis dahin viele Tausende ehemalige DDR-Bürger kriminalisiert, angeklagt und bestraft und ebenso viele Existenzen vernichtet sein werden, von den Betroffenen, die noch sterben, weil sie das alles nicht ertragen können, oder den Freitod der justiziellen Demütigung vorziehen, gar nicht zu reden.

,,Verflucht sei, wer das Recht verdreht! Mos.2"

 

Quellenverzeichnis

1) ERICH BUCHH0LZ, Erste Überlegungen nach Bekanntwerden der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Betr.: die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerden von Albrecht, Keßler, Streletz u.a.) in Weisenseer Blätter, Hefte zu Fragen aus Theologie, Kirche und Gesellschaft, Heft November/Dezember 5/199~ 5. 32 – 39

2) KARL (GRAFF, Schüsse an einer anderen deutschen Grenze, ISBN 3-928999-55-9, 1995 by SPOTTLESS Verlag.

3) a.a.O., 5. 17, 22 u. 23

4) a.a.0.., S.32

5 )Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 22.9.1994, Geschäftszeichen P III 1-98

6) Mitteilung des BVerfG Nr. 69/96 zur Begründung der Zurückweisung der Verfassungsbeschwerden von Albrecht, Keßler, Streletz u.a., in NEUES DEUTSCHLAND vom 13.11.1996

7) KARL GRAFF, a.a.O S 8 – 12

8) KARL GRAFF, a.a.0., S 104 – 105

9) KARL GRAFF, a.a.O., S 85

10) KARL GRAAF, a.a.O., S 107 – 110

11) KARL GRAFF; a.a.O.. S 110

12) HORST JÄCKEL, Erinnerungen an den Dienst bei den DDR - Grenztruppen in Weissenseer Blätter, Hefte zu Fragen aus Theologie, Kirche und Gesellschaft, Heft November/Dezember 5/1996, 5. 31 – 32

13) KARL GRAFF, a.a.0., S. 44 - 45

14) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.9.1996, S 6

15) KARL GRAFF, a.a.0., S. 77 u. 82

16) NORMAN PAECH, Akte der Kolonialisierung, in Junge Welt vom 8.2.1992

17) HEINRlCH HANNOVER, Die Justiz der Sieger, in Junge Welt vom 7.2.1992

18) KLAUS DÜMDE, "An den Galgen" ,kein politischer Streit, in NEUES DEUTSCHLAND VOM 16.12.1996

Mitteilungen der "Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung e.V." 12-96 vom 9.12.1996