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http://www2.pds-online.de/bt/presse/1999/11/19991109-004.htm Datum : 09.11.1999
Nr.   : 0979
Thema : DDR-Bürgerrechtler

Offener Brief von DDR-Bürgerrechtlern: Gauck spricht nicht für die Demokratiebewegung des Herbstes ´89

Als DDR-Oppositionelle und Mitbegründerin des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) und anlässlich der Sondersitzung des Deutschen Bundestages zum 10. Jahrestag der Maueröffnung erklärt die Abgeordnete Christina Schenk:

Joachim Gauck ist nicht legitimiert, als Vertreter des Herbstes ´89 zu sprechen. Er nimmt die DDR bis heute lediglich mit einem Tunnelblick wahr, der diesen Staat auf Stasi-Überwachung und SED-Diktatur reduziert. Die Ziele der BürgerInnenbewegungen hat er entweder nie verstanden oder sie inzwischen bei seiner nahtlosen Integration in die neuen Verhältnisse vergessen.

Diese absichtsvolle Fehlbesetzung ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die etablierte Politik die Intentionen und den kritischen Geist der Demokratiebewegung der DDR zu entsorgen versucht. Viele der damals formulierten Forderungen sind auch in der jetzigen Gesellschaft aktuell.

Aus diesem Grund bin ich Mitunterzeichnerin des beigefügten Offenen Briefes von Vertreterinnen und Vertretern der DDR-BürgerInnenbewegung an Joachim Gauck. Er hat folgenden Wortlaut:

Offener Brief an Joachim Gauck

Heute hören wir von Ihnen, nun sei in Deutschland erreicht, wofür damals die Opposition in der DDR und die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 gekämpft haben. Zwar seien im Osten und im Westen die Verhältnisse noch verbesserungsbedürftig, ja sogar mitunter kritikwürdig, aber nun sei es jedem Bürger möglich, im demokratischen Rechtsstaat durch tätige Mitwirkung alles zum Besseren zu wenden. Nur sei es schade, daß das noch nicht alle verstanden haben. Kommt Ihnen das nicht irgendwie bekannt vor? Erinnern sie sich noch, wie uns in der DDR die Verhältnisse schöngeredet wurden? Daß wir uns als "Sieger der Geschichte« in der DDR seinem Staatswesen und dessen Zielen durch aktive Mitarbeit würdig zu erweisen hatten?

Erinnern Sie sich noch an die Forderungen der Bürgerbewegungen des Herbstes? Wir wollten nicht nur die Stasi auflösen, sondern wir wollen überhaupt keine Geheimdienste mehr. Wir wollen auch in keinem demokratischen Abhörstaat leben. Wir wollten nicht nur reisen, sondern wir wollen auch ein Land, in dem Flüchtlinge nicht wie Ballast verwaltet und "entsorgt" werden, sondern wo gleiches Recht für alle gilt. Wir wollten nicht nur den Warschauer Pakt verschwinden sehen, sondern wir wollen überhaupt keine Militärblöcke mehr, die über die Armeen ihrer Mitgliedsstaaten für Kriegseinsätze verfügen. Wir wollten statt dessen ein kollektives Sicherheitssystem, das alle Armeen bändigt, ob sie nun gegen ihr eigenes Volk oder andere Völker das Feuer eröffnen. Wir wollen weder Waffenexporte noch Unterstützung für Diktaturen, in denen wie in der Türkei ein ganzes Volk geknechtet wird.

Wissen Sie noch, was in dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches stand? Er enthielt viele unserer Forderungen von damals. Prüfen Sie bitte nach, was davon heute Wirklichkeit ist. Erinnern sie sich noch an die Sozialcharta des Runden Tisches? Und erinnern Sie sich daran, warum und auf wessen Veranlassung dies alles beim Einigungsprozess im Papierkorb verschwand. Wir wollten nicht nur mehr Mitbestimmung, wir wollten Teilhabe und Selbstbestimmung. Wir wollten nicht nur die papierne Freiheit, sondern auch soziale Gerechtigkeit. Fragen Sie die vielen Arbeitslosen, fragen sie vor allem auch die Frauen aus der ehemaligen DDR, was sie von der Koexistenz von Meinungsfreiheit und Obdachlosigkeit, von Versammlungsfreiheit und Erwerbslosigkeit, von Reisefreiheit und Sozialhilfebedürftigkeit halten.

Aber Sie denken heute, wir sollten als Bürger des beigetretenes Viertels bescheidener sein. Dieser Zug zur Bescheidenheit ging uns damals, im Herbst 1989, vollständig ab. Und es wird Zeit, daß wir nicht nur in Neufünfland, sondern in ganz Deutschland diese Unterwürfigkeit abschütteln. Nur wer die Neigung zur Anpassung und das Vertrauen in Parteien und Ministerien, die unsere Angelegenheiten zu unserem Schaden verwalten, überwindet, wird etwas verändern. Auf Sie und viele unserer alten Mitstreiter, die in Amt oder Mandat ihren Frieden mit dem Bestehenden gemacht haben, müssen wir wohl verzichten. Vorerst aber sprechen wir Ihnen das Recht ab, sich auf uns zu berufen, wenn Sie über die Opposition in der DDR sprechen.

Judith Demba, Bernd Gehrke, Renate Hürtgen, Thomas Klein, Silvia Müller, Sebastian Pflugbeil, Christina Schenk, Reinhard Schult, Bettina Wegner

Berlin, den 8. 11. 1999

Rückfragen: Bernd Gehrke, Tel. 030-447 31 600, eMail Bernd.Gehrke@t-online.de